Reformationsdrama und Jesuitentheater: Propaganda, Belehrung und Erziehung

Reformationsdrama und Jesuitentheater: Propaganda, Belehrung und Erziehung
Reformationsdrama und Jesuitentheater: Propaganda, Belehrung und Erziehung
 
Die Reformation gab der Geschichte des deutschen Dramas eine neue Wendung. Was vorher war, das große geistliche Weltspiel des Mittelalters, das Fastnachtsspiel und die bescheidenen Anfänge des Humanistendramas aus dem Geist des Plautus und Terenz, starb entweder ab oder geriet in die Einflusszone des neuen religiösen Willens. Luther selbst lieferte die Richtlinien, die seine Anhänger befolgten. Kampf gegen die babylonische Hure des römischen Papsttums, so lautete die Hauptparole. »Drumb, lieben freunde, last uns auch auffs new widder anfahen, schreiben, tichten, reymen, singen, malen und zeygen das edle götzen geschlecht. ..! Unselig sey, der hie faul ist«! Das reformatorische Kampfdrama, eng verbunden mit der Flut der Flugschriften und Streitliteratur, nahm das beim Wort. Eher in eine moderate, didaktische Richtung wiesen Luthers Vorreden zu den apokryphen Büchern Judith und Tobias. Die Juden, so vermutete er da, hätten diese Geschichten gespielt, »wie man bey uns die passion spilet. .. damit sie yhr volck und die Jugent lehreten / als in einem gemeinen bilde / oder spiel / Gott vertrawen / from sein / und alle hülff und trost von Gott hoffen«. Hier liegt der Ursprung des reformatorischen Bibeldramas, das im Bündnis mit dem von Melanchthon geförderten Schuldrama die Bühne an die Seite der evangelischen Kanzel rückte. Hunderte von Stücken sind auf diese Weise entstanden. Nie in der Geschichte des deutschen Dramas war die soziale Bedeutung der Bühne mächtiger als im Zeichen der evangelischen Mission.
 
Aus der unübersehbaren Schar der literarischen Produzenten, die sich ans Werk machten, ragen nur wenige heraus. Der Schweizer Niklaus Manuel formte den Typus der anti-»papistischen« Satire aus. Als ernstes Fastnachtsspiel, im Reihungsstil einer Revue komponiert, liefert das Spiel »Vom Pabst und siner Priesterschafft« (Erstaufführung 1523) ein Sündenregister der römischen Hierarchie, die sich zu einem Totenschmaus zusammengefunden hat. Erst verwundert, dann zornentbrannt ruft Petrus angesichts seines vorgeblichen Nachfolgers aus: »Wie wol er der allerheiligest gheißen ist, / So hieß er billicher der widercrist!« Das Stichwort vom Antichrist wird dann zum Leitfaden von Thomas Naogeorgus, der in seiner lateinischen »Tragoedia nova Pammachius« von 1538 den Sturmangriff gegen Rom mit allen Mitteln einer bild- und sprachmächtigen Theatralik vortrug. Im Anschluss an Luthers Schmähreden gegen »des Teufels Kirche« verdichtet Naogeorgus in seiner großräumigen Parabel die gesamte Entstehungs- und Verfallsgeschichte der Papstkirche bis zum Ausbruch der Reformation in Wittenberg. Pammachius ist der »Alleszerstörer«, der einen Pakt mit dem Satan schließt, um unter der Maske der Religion Kaiser und Welt zu beherrschen.
 
Das biblische Drama hat seine bekanntesten Vertreter in Burkardt Waldis und Paul Rebhun. Mit der »Parabell vam vorlorn Szohn« (1527) liefert Waldis eine detaillierte Exegese des beliebten biblischen Gleichnisses im Sinne der neuen Rechtfertigungslehre. Der »Actor«, der Spielleiter des Stückes, begleitet den Weg des verlorenen Sohnes wie ein evangelischer Prediger mit Auslegungen, Ermahnungen und Gebeten. Leitmotivisch wiederholt sich der reformatorische Hauptsatz von der Rechtfertigung »Vth rechter gnad vnd ydel gunst / On all vnße todont (Zutun), werck vnd kunst«. Figuren und Dinge fügen sich der so vorgezeichneten Deutung: die beiden Söhne vertreten den Werkdienst beziehungsweise den Glauben - die Schweine bezeichnen die guten Werke, die Treber, womit man sie füttert, die geistlichen Zuchtmittel, die neuen Kleider dann die Gaben des Heiligen Geistes, der Ring den ewigen Bund mit dem himmlischen Vater, das geschlachtete Kalb schließlich das Sühneopfer Christi.
 
In der gleichen Manier geht Rebhuns »Geistlich Spiel von der Gotfürchtigen und keuschen Frawen Susannen« (1536) vor, das auf der Erzählung des Buches Daniel fußt. Alle Figuren verkörpern einen sozialen Lehrgehalt: »Das jhm ein yeder nem draus / Ein lehr / und trags mit yhm zu haus / Und besser sich in seinem standt«. Der reformatorische Einschlag geht über der ständischen Moral nicht verloren: Susanne, die schon die Züge des barocken Märtyrers vorwegnimmt, wird allein durch ihren Glauben gerettet und innerweltlich belohnt.
 
Wie ein Sammelbecken nimmt das riesige Werk des Nürnberger Schuhmachers und Meistersingers Hans Sachs alle Tendenzen des Zeitalters in sich auf. Unter den 200 Dramen, die er produzierte, finden sich Fastnachtsspiele und Schuldramen, Bearbeitungen antiker und mittelalterlicher Stoffe nach Humanistenart, Bibelstücke und Moralitäten.
 
Als sich der Jesuitenorden an die Spitze der Gegenreformation setzte, nahm er selbstverständlich auch das Theater in seinen Dienst. Das Jesuitendrama ging aus dem Rhetorikunterricht an Schulen und Universitäten hervor. Den Lehrern der Rhetorikklasse oblag es, für die jährlichen Schulfeiern lateinische Stücke anzufertigen und einzustudieren. Von circa 1560 bis zum Verbot des Ordens 1773 entstand so ein gewaltiges Repertoire. Im 17. Jahrhundert rechnet man für den deutschen Sprachraum mit 20 Bühnen und einer jährlichen Produktion von 120 bis 150 Dramen. Schon bald spielte man nicht mehr in den Schulen, sondern vor großem Publikum auf öffentlichen Plätzen. In Wien gab es seit 1650 sogar ein eigenes Theater für 3000 Zuschauer. Der Aufwand wuchs mit der Entwicklung der theatralischen Mittel. Die Jesuiten führten die italienische Illusions- und Verwandlungsbühne ein, verbanden sie mit der alten Simultanbühne, nutzten alle Effekte einer ausgeklügelten Theatermaschinerie, Licht- und Geräuschtechniken, Hebe- und Flugapparaturen, dazu Ballett, Chöre, Zwischenmusik, Aufmärsche. Gelegentlich ist von über 1000 Mitwirkenden die Rede. Dazu kam die affektbestürmende Mischung von Komischem und Erhabenem, von burlesker Realistik und spiritueller Allegorik, von irdischer Drastik und transzendentem Gericht. Alles diente dem Zweck, die Glaubensziele der Gegenreformation einzuschärfen: Triumph der kämpfenden Kirche, Betonung des freien Willens, Bekehrung und Weltabkehr, Verehrung der Heiligen und der Sakramente. Auch die entlegensten Winkel der profanen und der Kirchengeschichte, der Heiligenlegende, der Missions- und Ordenshistorie wurden nach Stoffen durchmustert. Gezielt hielt man an der lateinischen Sprache fest. Deutsche Theaterzettel (»Periochen«) informierten die Zuschauer über den Inhalt der Stücke.
 
Als bedeutendster Dramatiker des Ordens gilt Jakob Bidermann. Sein berühmter Erstling, der »Cenodoxus« (1602), demonstriert an der Geschichte eines Pariser Gelehrten, der bis zur Selbsttäuschung der Cenodoxia, der eitlen Ruhmsucht, verfallen ist, das göttliche Gericht über die stoisch getönten Autonomieansprüche des Renaissance-Humanismus. Bidermann mischt die römische Komödientradition mit dem Welttheater der Moralitäten, bringt himmlisches und höllisches Personal zu Gesicht und entwirft mit den Mitteln der Allegorie eine scharfsinnige Psychologie der kirchlichen Lasterlehre. Die Aufsehen erregende Münchener Aufführung von 1609 bewirkte, dass sich der Hauptdarsteller und andere adlige Personen dem Jesuitenorden zuwandten.
 
Die Angst um das Seelenheil variieren auch die anderen dramatischen Spiele Bidermanns, samt und sonders repräsentativ für Themenwahl und Gattungen des Jesuitentheaters: politisch-historische Staatsaktion, Fürstenspiegel, Eremitenstück, Märtyrerdrama. Die ungewöhnliche Wirkung Bidermanns bekräftigt eine zweibändige Ausgabe der »Ludi theatrales« von 1666. In der Regel wurden Ordensdramen nicht gedruckt.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
 
Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Auf mehrere Bände berechnet.Stuttgart u. a. 1993ff.
 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen u. a. 111993.
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 Lehmann, Edgar: Die Bibliotheksräume der deutschen Klöster in der Zeit des Barock.2 Bände. Berlin 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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